15 Jahre Kinderdorfmutter

Katrin Holfeld arbeitet seit 25 Jahren beim Albert-Schweitzer-Kinderdorf Berlin e.V.

„Es ist schlimm, was manche Kinder schon erlebt haben“

Katrin Holfeld arbeitet seit 25 Jahren beim Albert-Schweitzer-Kinderdorf Berlin e.V. als Erzieherin, davon 15 Jahre als Hausleiterin. 15 Kinder hat sie als Kinderdorfmutter betreut. Da erlebt man so einiges: schöne Momente mit den Kindern, wenn sie sich endlich zu Hause fühlen können, Reisen, lustige Anekdoten, aber auch Erschreckendes, was Kinder durchmachen mussten. Im Interview berichtet die 50-Jährige von ihren Erfahrungen.

Wie viele Kinder leben derzeit hier im Haus?

Wir haben hier derzeit sieben Kinder zwischen sechs und 17 Jahren in unserer Familie. Darunter sind vier Mädchen und drei Jungen. Eigentlich sind unsere Kinderdorffamilien auf sechs Kinder ausgelegt. Aber vor etwa drei Jahren bekamen wir die Anfrage für drei Geschwisterkinder, hatten aber nur zwei Plätze frei. Als wir uns den Bericht durchgelesen hatten, haben wir beschlossen, dass die drei nicht getrennt werden dürfen und einen Antrag auf Überbelegung gestellt. Zum Glück haben wir die Räumlichkeiten und die Personalkapazitäten, dass das möglich war.

Unterstützt werde ich von zwei hinzukommenden Erzieherinnen und einer Hauswirtschaftskraft. Wir vier arbeiten schon seit mindestens neun Jahren zusammen. Eine Mitarbeiterin hat zusammen mit mir hier angefangen vor 15 Jahren. Ein so stabiles Team ist ein großer Vorteil, da jeder weiß, wie der andere tickt. Wir machen ja keinen ,normalen‘ 39-Stunden-Job, wo man um 18 Uhr zu Hause abschalten kann und nur wenig Privates über seine KollegInnen erfährt. Das private Leben spielt bei uns überall mit rein, und jeder bringt seine Ideen mit ein. Ich schätze diese Abwechslung und den Austausch untereinander sehr.

Ein weiteres wichtiges Familienmitglied ist unsere Katze Kleo. Sie entfaltet im Kontakt mit den Kindern oft therapeutische Wirkungen.

Wie lange brauchen die Kinder ungefähr, bis sie im Kinderdorf ,angekommen‘, d.h. sich hier zu Hause fühlen?

Das ist immer sehr individuell. In der Regel sagen wir anderthalb bis zwei Jahre brauchen die Kinder, um sich an die neuen Strukturen und Regeln zu gewöhnen. Es ist für sie alles neu: die Familienmitglieder, das Umfeld, Kita oder Schule. Für die meisten ist es neu, überhaupt einen strukturierten Alltag zu haben. Viele Kinder verhalten sich distanzlos anderen Menschen gegenüber und müssen erst einmal lernen, dass es Regeln im Umgang miteinander gibt. Es ist immer ein schöner Moment, wenn man merkt, das wieder ein Kind ,angekommen‘ ist.


Woran merken Sie das?

Am Vertrauen, das man aufbauen konnte, und dass sich die Kinder hier sicher fühlen. Letzte Woche hatten wir so einen Moment mit den drei Geschwistern. Es gab eine Anhörung zum Sorgerechtsentzug der Mutter vor Gericht. Als die drei wiederkamen, waren sie völlig fertig. Die Kleine war ganz verweint, die Älteste versteinert. Der Mittlere ist eigentlich ein Sonnenscheinkind, immer am Lachen und Strahlen. Ich hab die drei gefragt, wie es ihnen geht. Die Jüngste hat gleich erzählt, der Mittlere meinte nur lächelnd, wie so oft: ,Alles gut‘. Ich fragte ihn dann, ob er nicht auch so ein komisches Gefühl im Bauch habe. Als er daraufhin anfing bitterlich zu weinen, merkte ich, er ist ,angekommen‘, d.h. er beginnt sich zu öffnen, seine Gefühle zu zeigen. Dafür braucht es Vertrauen.

Die Kinder, die hier untergebracht werden, mussten aus ihren Herkunftsfamilien herausgenommen werden, weil die Zustände das Kindeswohl gefährdeten. Mit welchen Geschichten sind Sie konfrontiert?

Sehr unterschiedliche. Die Familien sind mit dem Alltag überfordert, es gibt oft psychische Erkrankungen der Eltern, Sucht- oder Gewalterfahrungen. Das Schlimmste, was ich je erlebt habe, war ein Kind im lebensbedrohlichen Zustand, das mit einem Jahr aus der Familie genommen wurde aufgrund schwerster körperlicher Misshandlungen. Es war ein halbes Jahr im Krankenhaus und anschließend in der Kurzzeitpflege, bevor es zu uns kam.

Bei solchen Geschichten muss man erst einmal schlucken. Im Alltag mit Kindern gibt es neben den traurigen Momenten aber sicherlich auch Schönes und Lustiges?

Natürlich. Ich liebe Kinder – die Grundvoraussetzung für diese Tätigkeit – und wir haben hier auch viel zu lachen. Die schönsten Momente sind immer, wenn die Großen zu Besuch kommen, die schon ausgezogen sind, und wir in alten Zeiten schwelgen. Letztens erzählte eine junge Frau, sie erinnere sich, dass sie hier immer Zahnpasta gegessen habe. Wir haben lange überlegt und mussten dann lachen, als ich mich erinnerte, dass die Kinder damals gern Kaugummis aus einer Tube hier hatten.

Eine andere schöne Geschichte ereignete sich beim Einzug in dieses Haus. Als die drei Gebäude extra für das Albert-Schweitzer-Kinderdorf gebaut wurden, kamen viele neugierige Spaziergänger aus der Nachbarschaft vorbei. Einige auch mit Vorbehalten, hier kämen die ,schwer erziehbaren‘ Kinder unter. Als ich einmal hinter den Büschen im Vorgarten gearbeitet habe, kam eine Oma mit Enkel vorbei, ohne mich zu sehen, und sagte zu dem Kleinen: „Hier machst du immer einen großen Bogen um dieses Haus!“ Sie war sehr erschrocken, als sie mich bemerkte. Ich habe mich lange mit ihr unterhalten, wo die Kinder herkommen, die hier leben. Die alte Dame kam dann noch lange regelmäßig zum Vorlesen zu uns. Ein schönes Beispiel, wie man mit Gesprächen und Offenheit Vorurteile abbauen kann.