Interview zur Bundestagswahl 2025 – Teil 1: Geschäftsführerin Catharina Woitke

„Jeder junge Mensch verdient eine Chance“ –
Catharina Woitke über die Zukunft der Jugendhilfe in Zeiten politischer Unsicherheit

Teil 1

Thema: Stationäre Kinder- und Jugendhilfe

Interview mit Catharina Woitke
(Geschäftsführerin des Albert-Schweitzer-Kinderdorf Berlin e.V.)

Frage 1:
Bestimmte politische Forderungen zielen aktuell auf eine stärkere Kontrolle der Jugendämter und eine Einschränkung von Inobhutnahmen ab. Welche Auswirkungen könnte dies auf die Arbeit der Jugendhilfe und insbesondere auf den Schutz gefährdeter Kinder haben? 

Catharina Woitke: Eine Einschränkung der Handlungsfreiheit der Jugendämter würde den Kinderschutz erheblich erschweren. In akut Kindeswohl gefährdenden Fällen benötigen wir schnelle und entschlossene Maßnahmen, wie etwa die Inobhutnahme. Wenn diese Instrumente eingeschränkt werden, könnte es passieren, dass gefährdete Kinder nicht mehr (rechtzeitig) geschützt werden können.  

Frage 2: 
Die AfD spricht sich gegen die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz aus. Welche Folgen könnte dies für die Rechte von Kindern und die Arbeit der Kinder- und Jugendhilfe haben? 

Catharina Woitke: Die Nicht-Umsetzung der Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz könnte Auswirkungen auf den rechtlichen Schutzrahmen für Kinder haben. Bereits 2018 war diese Verankerung – in Anlehnung an die UN-Kinderrechtskonvention von 1992 – im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD vorgesehen und ist leider noch immer nicht umgesetzt worden. Wenn das weiter so bleibt, würde es für uns im Albert-Schweitzer-Kinderdorf bedeuten, dass wir mit weniger Unterstützung für die Rechte von Kindern und Jugendlichen rechnen müssten. Unsere tägliche Arbeit basiert auf der Anerkennung dieser Rechte, um sicherzustellen, dass jedes Kind, unabhängig von Herkunft oder sozialem Status, die Förderung erhält, die es braucht.  

Frage 3: 
Die AfD fordert auch eine Verschärfung des Jugendstrafrechts und spricht sich gegen inklusive und diversitätsfördernde Ansätze aus. Wie würden sich solche politischen Maßnahmen auf die Arbeit der Kinder- und Jugendhilfe auswirken? 

Catharina Woitke: Eine Verschärfung des Jugendstrafrechts (z.B. in Form von Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters) und die Ablehnung inklusiver Ansätze stehen im Widerspruch zu unserem rehabilitativen Ansatz in der Jugendhilfe. Unsere Aufgabe ist es, junge Menschen in schwierigen Lebenssituationen zu unterstützen und Perspektiven zu schaffen – nicht, sie zusätzlich zu stigmatisieren oder zu bestrafen. Betroffene Kinder und Jugendliche würden kriminalisiert und damit noch weiter ausgegrenzt. 

Problematisch ist auch die Ablehnung von Diversität und inklusiven Programmen, da die Kinder- und Jugendhilfe von Vielfalt und Inklusion geprägt ist. Wenn die o.g. Maßnahmen umgesetzt würden, könnten wir unsere integrativen Hilfsangebote nicht mehr mit dem notwendigen politischen Rückhalt aufrechterhalten. Das würde nicht nur die Zukunft der betroffenen jungen Menschen, sondern auch die Solidarität und den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft gefährden. 

Frage 4: Es gibt politische Forderungen nach Kürzungen im sozialen Bereich, die sich auf die Kinder- und Jugendhilfe auswirken könnte. Welche Folgen hätte das für die Arbeit des Albert-Schweitzer-Kinderdorf Berlin e.V.? 

Catharina Woitke: Kürzungen im sozialen Bereich, wie sie von der AfD gefordert werden, könnten die Arbeit der Kinder- und Jugendhilfe massiv beeinträchtigen. Insbesondere benachteiligte junge Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind, würden die größten Verluste erleiden. Wenn zum Beispiel die Familienhilfe oder Programme zur Unterstützung sozial benachteiligter Kinder gekürzt werden, verlieren diese Kinder und Jugendlichen genau die Hilfen, die sie dringend brauchen: Weniger therapeutische Angebote, weniger Fördermaßnahmen und weniger Prävention sind die direkten Folgen solcher Kürzungen.
Statt eine Gesellschaft zu fördern, die in ihre schwächsten Mitglieder, die zudem maßgeblich die Zukunft unserer Gesellschaft gestalten werden, investiert, könnte so eine Gesellschaft entstehen, die diejenigen, die am meisten Unterstützung benötigen, letztlich im Stich lässt. Das ist eine Entwicklung, die es zu vermeiden gilt, wenn wir für eine gerechte und solidarische Gesellschaft und Zukunft eintreten wollen. 

Frage 5:  
Was würde ihr Namensgeber Albert Schweitzer, der am 14. Januar seinen 150. Geburtstag gefeiert hätte, zu einem „Rechtsruck“ in der Sozialpolitik sagen, wie ihn die AfD avisiert?

Catharina Woitke: Albert Schweitzer betonte stets die Bedeutung von Mitmenschlichkeit und sozialer Gerechtigkeit. Maßnahmen, die diese Werte gefährden, müssten aus seiner Sicht kritisch betrachtet werden.
Schweitzer, der sich für die „Ehrfurcht vor dem Leben“ einsetzte, würde vermutlich darauf hinweisen, dass eine Politik, die Solidarität und Unterstützung für Bedürftige in Frage stellt, mit seinen ethischen Prinzipien unvereinbar ist. Er hätte die Wichtigkeit einer Gesellschaft hervorgehoben, die auf Mitmenschlichkeit, Inklusion und Gerechtigkeit basiert und sich gegen Maßnahmen ausgesprochen, die diese Werte aushöhlen könnten. 

Frage 6:  
Welche Botschaft würden Sie Menschen mit auf den Weg geben, die politischen Entscheidungen treffen, die die Kinder- und Jugendhilfe betreffen? 

Catharina Woitke: Wenn wir über die Zukunft der Kinder- und Jugendhilfe nachdenken, dürfen wir nicht vergessen, dass die Unterstützung von jungen Menschen ein hohes gesellschaftliches Gut in Deutschland ist. Politische Maßnahmen, die Einsparungen im sozialen Bereich vorsehen, könnten für die Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe bedeuten, dass wir unsere Arbeit nicht mehr in dem bisherigen Umfang leisten können. Es wäre dann zu befürchten, dass junge Menschen, die aus schwierigen Verhältnissen kommen – sei es durch Armut, Gewalt oder andere Krisen – ,zunehmend unter die Räder geraten, weil politische Prioritäten auf andere, weniger integrative Ziele ausgerichtet würden. Das ist keine Perspektive, die ich für die Zukunft der Kinder- und Jugendhilfe und für unsere Gesellschaft haben möchte. Wir müssen uns die Frage stellen, ob wir eine Gesellschaft aufbauen wollen, die sich in Isolation und Ausgrenzung übt oder ob wir für eine starke, solidarische Gemeinschaft kämpfen, in der jeder junge Mensch die Chance auf eine gute Zukunft erhält. 

Dieses Interview wurde geführt von Annika Mecke.